offenen Brief
Offener Brief von Kleinparteien
An die Wahlbeobachtungsmission der OSZE in Deutschland zur Bundestagswahl 2025
Sehr geehrte Damen* und Herren*,
wir wenden uns mit großer Sorge an Sie angesichts der massiven Einschränkungen demokratischer Teilhabe bei der kommenden Bundestagswahl. Während zur Europawahl 2024 noch 27 Kleinparteien deutschlandweit antreten konnten, sind es 2025 nur noch vier.(1) Der Grund dafür liegt in einer völlig überzogenen Hürde: Unterstützungsunterschriften in einer Größenordnung, die faktisch nicht zu stemmen ist.
Diese Regelung stammt aus einer Zeit, in der es nicht einmal Faxgeräte gab. Heute ist sie völlig realitätsfern – insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Hürde während der Corona-Pandemie vorübergehend geviertelt wurde, um den erschwerten Bedingungen Rechnung zu tragen. Dass sie nun wieder auf ihr altes, faktisch unüberwindbares Niveau zurückgesetzt wurde, zeigt, dass es hier nicht um demokratische Prozesse, sondern um Machterhalt geht.(2)
„Die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP) hat gegen diese Unterschriftenvorgaben geklagt (siehe https://www.oedp.de/themen/unterschriftenquoren). Das Bundesverfassungsgericht wies die Klage jedoch zurück und entschied, dass die Pflicht zur Sammlung von Unterstützungsunterschriften weiterhin besteht (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2024/12/es20241210_2bve001523.html).
Betroffen sind nicht nur unkonventionelle politische Strömungen, sondern auch Minderheiten. Sogar die Partei „Sonstige“, die ausdrücklich als Vertretung von Minderheiten auftritt, wurde nicht als solche anerkannt.(3) Diese systematische Ausschlussstrategie sorgt für ein schleichendes „Parteiensterben“ – und das, obwohl in Deutschland Parteiverbote traditionell äußerst kritisch diskutiert werden.
Besonders perfide ist der Zeitdruck: Während etablierte Parteien längst mit Plakaten und Kampagnen in den Wahlkampf starten, müssen kleine Parteien noch um ihre bloße Zulassung bangen. Die Zeit, die für politische Arbeit genutzt werden sollte, fließt in das Sammeln einer völlig willkürlichen Anzahl von Unterschriften ein. Das ist nicht nur eine Hürde – es ist eine Demütigung für ehrenamtlich organisierte Parteien und eine unüberwindbare Barriere für neue politische Bewegungen.
Die OSZE Wahlbeobachtungsmission ist derzeit in Deutschland und hat das Parteizulassungsverfahren bereits kritisiert. In ihrem aktuellen Bericht (S. 8) weisen Sie darauf hin, dass die Unterstützungsunterschriften weiterhin ein Problem darstellen. https://www.osce.org/files/f/documents/9/d/584532.pdf
Zudem gibt es aktuell mehrere Petitionen, die eine Reform fordern:
- Die Partei des Fortschritts (PDF) fordert in einer jüngsten Petition an den Bundestag die Digitalisierung der Unterschriftenverfahren:
https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2024/_12/_16/Petition_175907.html - Ein Dachverband von Kleinparteien mahnte in seiner Petition gegen die Prozenthürde: „damit würden Millionen von Wähler*innen aus den demokratischen Prozessen ausgesperrt!!“
https://www.change.org/p/keine-sperrklausel-gegen-kleinparteien - Ein offener Brief von 8 renomierten Kleinparteien bestätigt:
„Darüber hinaus ist das Verfahren zur Sammlung von Unterstützungsunterschriften in seiner jetzigen Form ein bürokratischer Kraftakt für Bürger, Ämter und Parteien. Aktuell müssen die Formulare beidseitig auf Papier ausgedruckt und von Ämtern einzeln händisch überprüft werden“ (4)
https://www.piratenpartei.de/2024/11/11/offener-brief-kleinparteien-fordern-niedrigere-huerden-zur-wahlzulassung/
Das Argument, die Einschränkung von Kleinparteien würde rechtsradikale Parteien abhalten, ist genauso absurd wie die Angst vor der Instabilität der Weimarer Republik. Tatsächlich erleben wir gerade, dass die Realität eine andere ist – und es ist gewiss keine gute Idee, jetzt Kleinparteien und damit Minderheiten sowie vielfältigere Perspektiven vom demokratischen Prozess auszuschließen. Wahlen ohne Prozenthürde – wie die letzten Europawahlen – haben gezeigt, dass Millionen von Wähler*innen sehr bewusst Kleinparteien wählen. Die Stimmen von 5.636.330 Menschen wiegen weniger als eine einzige Stimme für eine große Partei.(5) Das sind so viele Wählende, wie in Berlin, Hamburg & Bremen leben, zusammen. Ihnen diese Möglichkeit faktisch zu nehmen, schadet der Demokratie und untergräbt unnötig das Vertrauen in freie und gleiche Wahlen.
Gegen die Nichtzulassung einer Landesliste zur Bundestagswahl ist vor der Wahl kein Rechtsschutz möglich. Die OSZE hat bereits 2009 auf diese Missstände hingewiesen.(6) Doch statt diese demokratischen Hürden restlos abzubauen, sind weitere hinzugekommen. Gerade in Deutschland muss genau hingesehen werden.
Wir fordern die OSZE daher auf, nicht nur eine erneute Kritik im Abschlussbericht zu formulieren, sondern auch aktiv Druck auf die deutschen Behörden und Gesetzgeber*innen auszuüben. Die Prozenthürde und die Unterschriftenhürden müssen drastisch gesenkt, realistische Fristen gesetzt und entweder moderne, digitale Sammelmöglichkeiten eingeführt werden oder die Unterschriften-Hürde zu einer einmaligen Barriere reduziert werden. Sonst bleibt die Teilnahme kleiner Parteien ein theoretisches Recht – aber keine reale Möglichkeit.
Mit freundlichen Grüßen
bergpartei
Mieterpartei
Die Sonstigen
Partei für Verjüngungsforschung
Feministische Partei DIE FRAUEN
TIERSCHUTZALLIANZ
Demokratie in Bewegung
Partei M.U.T.
Die Urbane Berlin
Piratenpartei Berlin
Klimaliste Deutschland, Landesverband Hessen
Liberale Demokraten, Landesverband Niedersachsen
Quellen und Fußnoten:
(1) https://www.wahlreform.de/landeslisten-btw25.pdf
Zwei dieser vier Kleinparteien, die antreten können, waren vom Unterschriftensammeln befreit. (Allerdings ist der Vergleich zwischen Bundestagswahl und Europawahl ein bischen wie der von Birnen und Äpfeln.)
(2) die Kleinpartei Klimaliste schreibt in einer umfassenden PM: „Zur nun kommenden, vorgezogenen Neuwahl des Bundestages wäre es für uns als Klimaliste faktisch unmöglich gewesen, anzutreten. Und das liegt nicht nur an den verkürzten Fristen.“ und „Wir sind gerade auf dem besten Weg, die demokratische Vielfalt zu verlieren.“
(3) 1. reguläre Sitzung des Bundeswahlausschuss 2025 Tag 2: https://youtu.be/qp85-COH-4E?t=1721
(4) Rathäuser sind mit der Überprüfung der Datensätze überfordert, eine Digitalisierung des Verfahrens durch elektronische Unterschriften würde dem Personalmangel für die Beschäftigten entlasten.
(5) ohne FDP, BSW und LINKE Quelle: https://www.bundeswahlleiterin.de/europawahlen/2024/ergebnisse/bund-99.html
(Natürlich können Wähler:innen von Kleinparteien auch einfach eine große Partei wählen, allerdings wird der Politische Wille gebrochen.)
(6) lesenswerter Bericht der OSZE-Wahlbeobachtungs-Mission in Deutschland 2009 https://www.osce.org/files/f/documents/e/7/40879.pdf#page=25
siehe auch
https://www.mehr-demokratie.de/mehr-wissen/standard-titel/unsere-wahlrechts-positionen